Gedanken zu einem Artikel aus der FAZ online vom 15.10.2016 zur Accenture-Studie mit dem Titel „Neue Studie: Die meisten Berufseinsteiger fühlen sich unterfordert“.
Als zweite Akademikerin aus einem Nicht-Akademiker-Haushalt habe ich mal kurz die Statistik gesprengt. Auch als Nesthäkchen mit 11 Jahren Verzögerung, entsprach ich als Zweitgeborene nicht unbedingt der Norm. Aber ansonsten gab es in meinem Lebenslauf keine akuten Auffälligkeiten. Schule immer gut bis okay, nie spitze, aber auch nie schlecht. Im Studium gab es auch nur die Verzögerung mit der dummen Statistik-Nachprüfung (a.k.a. „die letzte vor der Exmatrikulation“) – hat ja trotzdem auch irgendwie geklappt.
Meine liberalen Eltern standen immer hinter mir und haben mir den Rücken gestärkt, sie haben mir vertraut und mich machen lassen – teilweise auch, weil sie einfach keine richtige Ahnung hatten, was Gymnasium und Studium (außer dem Stress) bedeuteten.
Im Nachhinein denke ich, dass es ein absoluter Glücksfall war. Ich durfte schon immer alles ausprobieren, was ich wollte. Darunter erfolglos Klavierunterricht, Voltigieren (warum?!), Reiten (Ich mag Pferde wirklich nichtmal besonders!) und – das war besonders schön – ich wurde sehr oft einfach in Ruhe gelassen. Keine übernervigen Nachfragen zum Schul- oder Unistatus, kein Erwartungsdruck in irgendeine Richtung. Hauptsache ich war ehrlich und bin ab und zu mal nach Hause gekommen oder habe mich telefonisch gemeldet.
Warum ich das alles erzähle: Weil ich irgendwie das Gefühl nicht los werde, dass ich leider eine aussterbende Spezies bin.
Verkürztes Abitur, Duales Studium, mit spätestens 23 bereit sein für den Arbeitsmarkt, Auslandsaufenthalt im Lebenslauf (am besten mit Charity-Hintergrund) und mit 28 fest die Familien- und Bausparplanung im Blick. Der Erwartungs- und Leistungsdruck an die jungen Erwachsenen von heute ist einfach enorm. Und vor allem scheint dieser Druck schon so verinnerlicht worden zu sein, dass dagegen nicht mal mehr rebelliert wird. Im Gegenteil (siehe FAZ-Artikel).
Wo sind die durchzechten Nächte, die verpennten Vorlesungen, die Freundschaften mit allen möglichen Leuten, von denen man sich höchstens mal freien Eintritt zu dieser oder jener Party erhofft hat?
Es scheint mir viel mehr heutzutage darum zu gehen, schon früh die richtigen Leute zum Business-Lunch zu treffen, zu den Besten zu gehören. Aus dem ersten Praktikum direkt in den ersten Job zu rutschen. Klare Ziele im Blick zu haben.
Um hier keine falschen Ideen aufkommen zu lassen: Ich liebe es, mit jungen Gründern zu sprechen, die mit 24 schon mehr auf die Beine gestellt haben als ich bis 40 je hinbekommen werde. Früher war eben nicht alles besser. Das Konzept, eine eigene Firma „einfach so“ als Berufseinsteiger entwickeln zu können, ist in Deutschland ja noch gar nicht so alt.
Ein „eigenes Geschäft“ zu haben war zu meiner Studienzeit entweder eine 1-Mann-Agentur für Grafikdesign zu sein oder ein Café zu betreiben.
Mimimi, ja ich Oma. Diese Zeiten gehören ja dank Digitialisierung wirklich in die Mottenkugelkiste.
Aber ich glaube, dass über das Gründertum hinaus das „Sich-ausprobieren-dürfen“ einen zu geringen Stellenwert in unserer Arbeitskultur bekommen hat.
„Failure Nights“ hin oder her: Zu oft sollte man sich Fehltritte dann aber auch bitte nicht erlauben und am besten erzählt man auch nur von ebendiesen, wenn man danach was Ordentliches auf die Beine gestellt hat. Nur zu scheitern ist nix für die Bühne.
Einen bunten Blumenstrauß an Themen anzubieten, die die Weiterentwicklung des Mitarbeiters fördern, gehört zum guten Ton. Job Rotation, Job Sharing, Hospitationen…“klar gibt es das bei uns!“. Die Krux: auch diese folgen immer einem Zweck.
Nämlich Defizite in der Kompetenzaufstellung auszugleichen. „Schräge Wünsche“, zum Beispiel als Produktioner mal in HR gucken oder als Marketingmensch mal auf eine Baustelle mitzugehen, ohne dass es beruflich notwendig wäre, werden eher selten erfüllt. Nicht zuletzt muss ich mir als Personalentwicklerin da an die eigene Nase fassen.
Klar ist ein Unternehmen keine unendliche Spielwiese – am Ende müssen Zahlen stimmen, die Mitarbeiter sollten ihren Kompetenzen gerecht eingesetzt werden. Es ist eben ein Geschäft: Arbeitsleistung und Kompetenz für und im Sinne des „großen Ganzen“ gegen Lohn. Dass alles immer individueller wird, halte ich nicht in allen Belangen für wahr. Was nutzt meine Individualität, wenn es nunmal Jahresziele gibt, an denen ich mich orientieren muss.
Erstaunlich viele junge Menschen haben diesen vermeintlichen „Gang der Dinge“ bereits sehr gut verinnerlicht. Im Schnellspurt durchs Turboabi, Bachelor, Praktikum, sich überlegen, was und wo man nun arbeiten möchte, den Master entsprechend auswählen, Kontakte, Netzwerken, rein in den Job, Karriere, Führungsaufgabe übernehmen, Bausparvertrag, Eigentumswohnung, Kind – nicht besonders auffallen. Am Wochenende mal durchdrehen und dem Typen an der Bar die Meinung sagen: Okay. Aber ab Montag dann wieder piano.
In Gesprächen mit Praktikanten und Trainees überrascht es mich immer wieder, wie konservativ die Vorstellungen des „guten Lebens“ doch immer noch sind und ich fühle mich selbst direkt ertappt, weil ich auch bei manchem nicke: Du alte Spießerin!
Für Unternehmen bedeutet diese Undurchschaubarkeit der Bedürfnisse erstmal Unsicherheit: Worauf sich nun einstellen? Gen Y, Gen X, Millenials? Arbeitszeiterfassung ja, nein, vielleicht? Reicht der Kaffee und der Obstkorb, oder brauchen wir doch eine Altersvorsorge?
Diese Themen sind ja noch irgendwie zu Regeln…am Ende ist es eine Mischung aus allem.
Das zunehmende Problem wird aber sein: Haben wir die richtigen (jungen) Menschen an Bord? Möchten diese überhaupt noch Risiken eingehen? Sind sie innovativ genug? Haben sie schon erlebt wie es ist, zu scheitern, Umwege zu gehen, Spaß zu haben, sich frei zu fühlen? Was können wir als Unternehmen tun, um das herauszukitzeln? Ist es überhaupt jetzt noch möglich?
In meinem Umkreis habe ich bereits viel Kopfschütteln und „Na sowas hätte ich mich früher nie getraut!“ vernommen ob der Zunahme an Sabbatical- und Weltreise-Wünschen. Erst zwei Jahre dabei und schon frei haben wollen?!
Aber wenn man sich nochmal den Lebenslauf der jüngeren Generationen anschaut, ist dieser Wunsch recht klar nachvollziehbar: Mit Studienkreditschulden und dem Pflichtpraktikum im Nacken, lässt sich eben schwerlich mal 5 Monate durch die Welt düsen. Die Studienpläne sind durchoptimiert und kaum ist die Klausurenphase rum, geht wieder die Uni los. Die Härte in den Studienfächern nimmt zu: Heute will jeder studieren, da muss ausgesiebt und „wegoptimiert“ werden. Da bleibt keine Zeit für Müßiggänger und Träumer.
Gerade in jungen Unternehmen und der Startup-Szene sieht man sich als HRler einem enormen Spagat ausgesetzt.
Insbesondere die Gründer haben Herzblut und enorm viel Zeit in die Firma gesteckt. Sie sind vom Produkt überzeugt und brennen dafür. Das sollten alle Mitarbeiter im besten Fall ebenso fühlen und leben. Überstunden dürfen kein Problem sein, es darf gelacht werden, aber die Performance muss stimmen. Immerhin wollen die Investoren gute Zahlen sehen.
Dabei geht oft der Sinn für die Mitarbeiter verloren – wie das eben auch bei den großen Playern so ist. Das Geschäftsinteresse muss nicht zwangsläufig mit dem Interesse der Belegschaft übereinstimmen.
Und hier muss HR dann dringend ran. Beide Seiten (Gründer wie Mitarbeiter) motivieren, bei Laune halten, immer neue Wege zu finden, um auch Spaß an der Arbeit zu machen – das alles ist nicht leicht. Dabei die Zahlen im Blick behalten und sich selbst nicht auszubrennen bei dem Spagat ist sicherlich auch eine Herausforderung.
Vielleicht ist es als HRler auch einfach Zeit, sich die Frage zu stellen, ob man nicht auch genau gerne diese „angepassten“ Lebensläufe so mag. Ob man es nicht auch strange findet, dass jemand nach 3 Jahren schon eine Auszeit möchte, oder einen mit 22 Jahren schon nach dem Zuschuss zur Altersvorsorge fragt.
Der nächste Schritt wäre, sich zu überlegen, wie man diese Leute ermutigt und dabei unterstützt, sich auszuprobieren und wie man sich selbst (und evtl. Andere) dazu bringt, neue Ideen und Konzepte zuzulassen. 4 Tage -Wochen, ultraflexible Arbeitszeiten, Arbeiten wo man mag…das alles klingt noch nach totaler Zukunftsmusik und es wird auch nicht alles für alle Geschäftsmodelle passen.
Aber am Ende werden wir keine andere Wahl haben, als uns wirklich und ernsthaft mit den Fragen der Lebensstile und -entwürfe zu beschäftigen – egal ob als Gründer, HRler, Politiker oder Dozent.
Wenn wir in Deutschland Innovation, Individualität und gute Bildung weiter hochhalten wollen, müssen neue Bildungskonzepte her, neue Gesetze zu Arbeits- und Auszeiten. Vielleicht wird es auch an der ein oder anderen Stelle ein vermeintlicher „step back“ werden – den Lern- und Bildungsentwürfen würde es sicherlich nicht schlecht stehen.
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