In letzter Zeit zeigt sich wieder vermehrt ein Phänomen, das ich immer wieder in Wellen beobachten kann: Personalentscheider*innen geben auf LinkedIn und Co. gut gemeinte Ratschläge, wie man sich bei ihnen zu bewerben habe. Es ist meistens nicht mal böse gemeint, der Unmut wird dabei aber auf ein recht generelles Level gehoben: “Liebe Bewerber*innen, bitte…”, „SO bitte nicht“ oder „Ich kann es nicht glauben…“. Gerne wird das Posting dann noch mit Screenshots garniert von vermeintlich “unverschämten” oder “unfähigen” Bewerber*innen.
Versteht mich nicht falsch – auch ich habe Personalauswahl gemacht und kenne diese Momente, an denen man denkt: “Really? DAS war dein bester Shot?!”. Aber nach drei Jahren bei einem Unternehmen, das sich auch als Advokat der Bewerber*innen versteht, denke ich über viele Sachen ganz anders. Und ich muss zugeben, dass ich auf einem ganz schön hohen Ross gesessen habe. Und falls auch du noch gerne auf dicken Rössern durch die Gegend reitest – vielleicht auch ohne es zu merken – solltest du nun dringend auch mal auf die andere Seite des Bewerbungstisches schauen:
Aussage #1: “Was mir die Bewerber*innen schicken, ist in weiten Teilen eine Frechheit.”
Das mag vielleicht dein Eindruck sein als Personalentscheider*in, aber hast du dich mal gefragt, ob du alles dafür tust, damit du die Bewerbungen erhältst, die du gerne hättest? Es gibt wirklich tolle Ausnahmen, aber im Regelfall sind die Karriereseiten der Unternehmen nicht mit Informationen zum Bewerbungsweg und -ablauf bestückt.
Warum stellst du den Bewerber*innen nicht eine Vorlage für ihren Lebenslauf zur Verfügung, wenn dir ganzseitige Bilder nicht gefallen oder du keine grellen Farben magst? Weshalb lässt du nicht deine*n findigen Kolleg*in eine kurze Bewerbungsmaske programmieren oder hinterlegst eine WhatsApp-Nummer, wenn das Geld für ein gutes Tool nicht da ist?
Nicht jede*r hat den Zugang zu den richtigen Informationen bei dem Thema Bewerbung und je komplizierter dein Bewerbungsverfahren schon im ersten Schritt aufgebaut ist, desto mehr Kandidat*innen springen ab. Das sind bis zu 70% Profile die du nie sehen wirst – einfach nur deshalb, weil dein Bewerbungsweg zu kompliziert ist und weil du immer alle Infos auf einmal möchtest.
Hung Lee teilte gerade auf LinkedIn interessante Folien aus einem Vortrag: Wenn du deine Bewerbungszeit als Unternehmen von 15 Minuten auf 5 Minuten verkürzt, kannst du bis zu 345% mehr Bewerbungen erwarten. Say whaaat?!
Ich sehe schon das Gegenargument in deinem Gehirn: Ja, aber AT WHAT COST, Eva?! Auf DIE Profile kann ich dann verzichten!
Nein, kannst du eben nicht.
Aussage #2: “Wenn ich auf eine umfangreiche Bewerbung verzichte, bekomme ich nur Schrott-Profile.”
Wir rauschen bis 2030 in einen Fachkräftemangel rein, der sich gewaschen hat und der uns richtig reinreißen wird als einstiges Vorzeige-Kind der europäischen Wirtschaftskraft. Also wäre es doch besser, wenn du jetzt schon sinnvolle Bewerbungsströme implementierst, um die Weichen richtig zu stellen. Das Ziel ist, den initialen ”Funnel” oder “Trichter” mit möglichst vielen Kandidat*innen zu füllen und durch sinnvolle weitere Selektion zu verkleinern. Die Qualität dieser „Initialbefüllung“ hängt eng mit der Qualität deiner Stellenanzeigen zusammen. (Dazu kann ich auch noch einmal gerne was schreiben, falls ihr Bedarf seht.)
Die weitere Selektion geschieht durch einfache Schritte wie: Erste Sichtung der Profile, Telefoninterview, Case Study/ Auswahltest, persönliche Gespräche mit wechselnden Akteuren und: fertig. Angebot machen und auf Einstellung hoffen.
Damit das bei einem großen Bewerbungsaufkommen klappt, kommst du um eine Automatisierung und Digitalisierung der Abläufe nicht drumherum. Die Zeit arbeitet gegen dich und dein Unternehmen – die besten Kandidat*innen werden auch bei der Konkurrenz gefragt sein. Und wenn diese schneller, besser, verbindlicher rekrutiert als du, schnappen sie deine Wunschkandidat*innen einfach weg. Deswegen arbeiten gute Headhunter immer im verbindlichen Austausch mit Kandidat*innen und Unternehmen. Sie kennen ihre Klientel gut und wissen, was sie von wem verlangen können und holen bei überzogenen Forderungen beide Seiten geschickt zurück auf den Teppich.
Es gibt genug Unternehmen da draußen, die ganz klar sagen: Ist mir egal, wo ich den- oder diejenige herbekomme und welche Infos ich zu den Personen habe. Ich brauche eigentlich nur eine Kontaktmöglichkeit und die Interessensbekundung zum Job – und dann ruf ich da an und kläre alles. Erstaunlicherweise ist das bei den akademischen Berufen eben nicht so häufig anzutreffen, sondern eher im Dauerbrenner Handwerk, der Logistik oder der Pflege. Okay, die Pflege ist da noch die Ausnahme, aber ist aufgrund der momentanen Situation auch dazu gezwungen, sich in Sachen Recruiting zu erneuern.
BEWERBER*INNEN-ZENTRIERUNG als wichtiges Mittel, um den Personalbedarf zu decken – das sollte eigentlich Standard sein.
Aussage #3: “Wie die Leute heute E-Mails schreiben…was denken die sich eigentlich?! Sowas würd ich nicht mal meinem besten Freund schicken!”
Das ist mein Lieblings“argument“. Ich frage dann immer, wann der- oder diejenige eigentlich das letzte Mal EINEM FREUND eine Mail geschickt hat! Ich meine damit nicht eine Konversation auf LinkedIn und auch nicht im Firmenpostfach. Ich meine so ’ne richtige Mail. Oft ist dann Schweigen im Walde angesagt.
Warum ist das so, dass wir privat kaum noch Mails schreiben? Weil wir andere Tools nutzen!
Messenger, Sprachnachrichten, Videocalls…aber ne Mail schreiben…das ist etwas, was in den Berufsalltag gehört und von dem wir uns abseits der beruflichen Kommunikation verabschiedet haben.
Gerade wenn du als Unternehmen Young Professionals suchst, musst du damit rechnen, dass diese Zielgruppe noch nie wirklich eine “dolle” Mail geschrieben haben. Frag mal die Professor*innen….
Falls deine Kandidat*innen nicht noch eingeschrieben sind und ihren Uni-Mailaccount scharf geschaltet haben, kommen dann solche Mailadressen wie “brudi93@” oder “sexy-marla@” in den Kontaktangaben raus.
Weil gerade junge Menschen eben ihre Mailfächer nur noch dazu nutzen, um sich beim Streamingdienst oder dem Lieferservice anzumelden. Und weil sie zum Teil auch gar nicht wissen, dass man mehrere Postfächer haben darf, und sich damit auch eine seriöse Mailadresse zulegen kann. Oder ihnen ist es schlicht egal, weil sie sich überhaupt keine Platte darum machen, dass an ihrer Mailadresse irgendetwas komisch sein könnte. Es fällt ihnen schlicht unds einfach nicht auf.
Es ist eben NUR eine Mailadresse und NUR eine E-Mail, die geschrieben wurde. Die gehobene Business-Kommunikation kann man dann ja noch im Unternehmen lernen. Klar gibt es Ausnahmen für manche Jobs. Wenn ich jemanden für Kommunikation suche, dann erwarte ich da auch ein Mindestmaß an Skills – aber darum geht es nicht in der großen Masse.
Und übrigens: Es ist auch keine tolle Kommunikation, gar nicht zu kommunizieren, liebe Personalentscheider*innen. Viele Bewerber*innen erhalten niemals irgendeine Rückmeldung zu ihrer Bewerbung. Keine Eingangsbestätigung, keine Absage, einfach: NICHTS. Und wie ja mein alter Soziologen-Freund Luhmann zu sagen pflegte: Man kann nicht nicht kommunizieren. Aka: Irgendwas bleibt immer hängen – und im Zweifelsfall landet das dann auf Kununu.
Was sagt ihr dazu? Fühlt ihr euch hier und da ertappt? Macht ihr Dinge anders oder NOCH besser? Ich freue mich immer über Kommentare, von denen auch andere Leser*innen profitieren können.
Als Schmankerl noch
meine Top-10-Herzstillstands-Aussagen von Personalentscheider*innen,
die ich so in den letzten drei bis fünf Jahren gehört oder gelesen habe. Here we go:
“Wir brauchen pro Stelle nicht mehr als 5 Bewerbungen. Dann laden wir 3 Leute ein und dann ist da schon einer dabei, den wir einstellen. Den Rest bearbeite ich dann auch gar nicht mehr.”
“Mir ist es egal, ob Bewerbungen dabei rauskommen. Mein Chef will, dass ich ausschreibe und das mach ich dann halt. Meistens klappt das ja auch irgendwie.”
“Wir haben einen richtig schlechten Prozess, ich weiß das. Aber ich hab kein Geld für irgendein Tool, weil wir jedes Jahr schon ~hohe 5-stellige Summe ~ für Stellenanzeigen ausgeben. Kaufen das immer im Paket für so 50 Stellen.”
“Ich weiß nicht, wann ich noch das ganze Bewerber*innen-Management machen soll! Ich muss gerade so viele Stellen ausschreiben – das muss ich einfach nacheinander abarbeiten.”
“Wenn die Bewerber*innen eine “schlimme” Mailadresse haben, ist das für mich schon das erste Auswahlkriterium und führt zur Absage.”
“Wir haben unser Postfach für Initiativbewerbungen abgestellt. Da waren immer so viele Bewerbungen drin.”
“Ja, wir haben da so ne Telefonnummer für Bewerber*innen angegeben – aber ich weiß gerade gar nicht, ob wir den Anschluss da überhaupt noch haben.”
„Also wenn die sich nichtmal die Mühe machen, ihre Zeugnisse einzuscannen, dann weiß ich doch schon Bescheid…“
„Mein Chef sagt, wenn die nichtmal ein Anschreiben machen wollen, dann wollen wir die Leute nicht. Ja, wir haben gerade 6 offene Stellen seit 4 Monaten.“
Und um es versöhnlich zu beenden, ist die 10. Aussage gleichzeitig auch die tollste und Bewerber*innen-freundlichste:
„Wenn ich ein Profil bekomme, das schlecht aussieht, aber die Qualifikation passt, dann schicke ich dem Bewerber bzw. der Bewerberin eine Vorlage für den Lebenslauf zu. Das schicken die dann auch meistens brav zurück und so kommen die dann am Chef vorbei und werden eingeladen. Das klappt immer und damit hab ich viele Stellen bei uns erfolgreich und nachhaltig besetzt.“
Foto von Andrea Piacquadio von Pexels
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